Vimalakīrti Sūtra 4
Kapitel 4 – Die Bodhisattvas
Da sprach der Erhabene zum Bodhisattva Maitreya:
„Geh bitte, um den kranken Vimalakīrti zu besuchen!“
Maitreya antwortete dem Buddha:
„Erhabener, ich fürchte, ich kann ihn nicht besuchen. Warum? Ich erinnere mich, dass ich einst mit dem König des Tushita-Himmels und seiner himmlischen Gefolgschaft über die Praxis der Unumkehrbarkeit im Bodhisattva-Weg sprach.
Da kam Vimalakīrti zu mir und sagte:
‚He, Maitreya, der Erhabene hat dir die Prophezeiung gegeben, dass du in deinem nächsten Leben die höchste, vollkommene Erleuchtung erlangen wirst. In welchem Leben wirst du denn diese Prophezeiung erfüllen? In einem vergangenen Leben? In diesem Leben? Oder in einem zukünftigen Leben?
Wenn du in einem vergangenen Leben die Prophezeiung erhalten hast – das Vergangene ist bereits vorbei.
Wenn in einem zukünftigen Leben – die Zukunft ist noch nicht da.
Wenn in der Gegenwart – die Gegenwart vergeht in einem Augenblick. Wie der Buddha zu einem Bhikshu sagte: „In einem einzigen Moment bist du geboren, gealtert, gestorben und wiedergeboren…“
Wenn du aber die Prophezeiung in einem „nicht-geborenen“ Zustand erhalten hast, dann bedeutet das, dass es kein Geborenwerden und kein Vergehen gibt – und genau das ist der wahre Zustand der Buddhaschaft. Wer sich bereits in diesem Zustand befindet, hat weder eine Prophezeiung nötig noch muss er noch die höchste, vollkommene Erleuchtung erlangen. Warum also braucht es dann noch eine Prophezeiung für Maitreya, im nächsten Leben ein Buddha zu werden?
Aufgrund welcher Geburt wird die Prophezeiung gegeben? Oder aufgrund welchen Vergehens?
Wenn sie aufgrund der Geburt gegeben wird – es gibt keine Geburt, auf die man sich stützen könnte.
Wenn aufgrund des Vergehens – es gibt auch kein wirkliches Vergehen.
Alle Lebewesen haben im Grunde weder Geburt noch Tod. Alle Erscheinungen haben im Grunde weder Geburt noch Tod. Alle Weisen und Heiligen haben im Grunde weder Geburt noch Tod. Selbst du, Maitreya, bist ohne Geburt und Tod.
Wenn du, Maitreya, aufgrund dieser Grundlage die Prophezeiung erhältst, dann müssten auch alle Lebewesen sie erhalten. Warum?
Weil Geburt und Tod – das, worauf sich alles stützt – letztlich eins sind, von Natur aus ununterscheidbar.
Wenn du also auf diese Weise die höchste, vollkommene Erleuchtung erlangst, dann sollten auch alle Lebewesen sie auf diese Weise erlangen können
Warum?
Weil alle Lebewesen lediglich illusorische Erscheinungen der Bodhi (Erwachen) sind.
Wenn du, Maitreya, die vollständige Erlöschung (Nirvāṇa) erlangen kannst,
dann können auch alle Lebewesen die vollständige Erlöschung erlangen.
Warum?
Weil die Buddhas tief erkannt haben,
dass alle Lebewesen letztlich in die Leere und Stille (die Auslöschung) zurückkehren,
dass sie ins Nirvāṇa eingehen,
und kein weiteres Erlöschen mehr notwendig ist.
Daher, Maitreya,
führe die himmlischen Wesen nicht mit dieser Lehre von der Unumkehrbarkeit in die Irre.
Tatsächlich gibt es niemanden, der den Bodhicitta (Erwachensgeist) fasst,
und niemanden, der von diesem Entschluss wieder zurückweicht.
Maitreya,
du solltest diese himmlischen Wesen dazu anleiten,
ihre unterscheidende Sicht auf Bodhi aufzugeben.
Warum?
Weil die Erkenntnis der Bodhi
weder durch einen illusorischen Körper noch durch ein wahnhaftes Denken erlangt werden kann.
Das Verstehen der Rückkehr zur Leere und „Stille“ ist Bodhi-Erwachen,
denn es geschieht durch das Aufgeben aller illusorischen Erscheinungen.
Das „Nicht-Beobachten“ ist Bodhi-Erwachen,
denn es gibt nichts mehr, an das man sich klammern könnte.
Das „Nicht-Handeln“ ist Bodhi-Erwachen,
denn alle illusionären Gedanken sind aufgehoben.
Das „Abschneiden“ der Anhaftung ist Bodhi-Erwachen,
denn alle Ich-Vorstellungen sind aufgegeben worden.
Das „Verlassen“ aller Illusionen ist Bodhi-Erwachen,
denn der Geist hat sich von allen falschen Gedanken gelöst.
Das „Vorhandensein“ von Karma-Hindernissen ist Bodhi-Erwachen,
denn das Gelöbnis umfasst auch die verschiedenen karmischen Hindernisse.
Das „Nicht-Eintreten“ in irgendein Dharma-Tor ist Bodhi-Erwachen,
denn es besteht keine Gier mehr nach Dharma oder Erscheinungsformen.
Das „Sich-Fügen“ allen Erscheinungen ist Bodhi-Erwachen,
denn sich dem Wandel zu beugen heißt, zur Leere zurückzukehren.
Der „Wunsch, in der Welt zu verweilen“ ist Bodhi-Erwachen,
denn das Wesen des Dharma durchdringt alle Dinge der Welt.
Das „Erreichen“ vollständiger Befreiung ist Bodhi-Erwachen,
denn es ist das tatsächliche Eintreten ins Nirvāṇa.
„Das Nicht-Dualistische Unterscheiden der Lebewesen ist Bodhi-Erwachen,
weil es das Verlassen des begehrenden Denkens gegenüber Lebewesen bedeutet
und diese stattdessen durch tiefe Dharma-Lehren geführt werden.
Das Gleichgewicht in der Sichtweise der Nicht-Unterscheidung ist Bodhi-Erwachen,
weil alle Erscheinungen gleich sind und letztlich zur Leere werden.
Der Zustand des Nicht-Handelns ist Bodhi-Erwachen,
weil es weder Geburt, Verweilen noch Vergehen gibt.
Das Erkennen der Leidenschaften der Lebewesen ist Bodhi-Erwachen,
weil es das Verstehen ihrer Geisteszustände und Handlungen bedeutet.
Das Nicht-Reagieren auf „Absichten“ ist Bodhi-Erwachen,
weil die zwölf Sinnesgrundlagen – die sechs Sinne und ihre Objekte – nicht mehr berühren.
Das Nicht-Verhaften an „Bedingungen“ ist Bodhi-Erwachen,
weil alle leidverursachenden Gewohnheiten abgelegt wurden.
Das Nicht-Verweilen in irgendeinem Zustand des Geistes ist Bodhi-Erwachen,
weil es keine Form mehr gibt, an der man haften könnte –
es ist die Verwirklichung der Leere.
Das Verstehen, dass alle Namen nur konventionell und ohne wahre Substanz sind,
ist Bodhi-Erwachen,
weil alle Namen nur leer in ihrer Natur und bloße Benennungen sind.
Das Betrachten der Dharmas als Illusion ist Bodhi-Erwachen,
weil alle Dharmas weder wirklich noch unwirklich sind,
und man daher weder annehmen noch ablehnen muss.
Das Unerschütterliche Ruhen im Geist ist Bodhi-Erwachen,
weil der Geist stets gesammelt und in sich ruhend bleibt.
Ein vollständig reiner, friedlicher Geisteszustand ist Bodhi-Erwachen,
weil alle schlechten Gedanken verschwunden und der Geist geläutert ist.
Das Nicht-Anhaften, Nicht-Ergreifen ist Bodhi-Erwachen,
weil es keine Objekte mehr gibt, an die man sich anklammern könnte.
Das Erkennen der Nicht-Verschiedenheit aller Dharmas ist Bodhi-Erwachen,
weil das Wesen aller Dharmas gleich und ebenbürtig ist.
Das Unvergleichliche ist Bodhi-Erwachen,
weil seine Bedeutung unermesslich ist und durch nichts übertroffen werden kann.
Das Erkennen der tiefgründigen, subtilen Natur der Dharmas ist Bodhi-Erwachen,
weil alle Dharmas schwer zu verstehen und tief verborgen sind.“
Erhabener, während Vimalakīrti so sprach,
erlangten zweihundert Himmelswesen die Erkenntnis des „Nicht-Geborenen Dharma-Geduld“.
Deshalb kann ich die Aufgabe, ihn zu besuchen und nach seinem Befinden zu fragen, nicht übernehmen.“
Darauf sprach der Erhabene zu dem Jüngling Guangyan:
„Gehe du und erkundige dich nach dem Befinden des Vimalakīrti!“
Guangyan antwortete dem Buddha:
„Erhabener, ich fürchte, ich kann mich nicht nach seinem Befinden erkundigen. Warum?
Ich erinnere mich: Einst wollte ich aus der großen Stadt Vaiśālī hinausgehen,
und Vimalakīrti kam gerade in die Stadt.
Ich verneigte mich vor ihm und fragte:
‚Ehrwürdiger Haushälter, woher kommst du?‘
Er antwortete:
‚Ich komme vom Ort der Übung und des Lernens.‘
Ich fragte weiter:
‚Was ist dieser Ort der Übung und des Lernens?‘
Er antwortete:
‚Ein aufrichtiger, gerader Geist ist der Ort der Übung und des Lernens,
denn er ist frei von Täuschung und Falschheit.
Das Hervorbringen von Entschlossenheit und Handeln ist der Ort der Übung und des Lernens,
denn dadurch kann man Dinge erfolgreich vollbringen.
Tiefes Vertrauen ist der Ort der Übung und des Lernens,
denn es fördert das Anwachsen von Verdiensten und Vorteilen.
Das Erwecken des höchsten Bodhicitta (Geist des Erwachens) ist der Ort der Übung und des Lernens,
denn es gehört zur Grundlage des Großen Fahrzeugs (Mahāyāna)
und verhindert das Abgleiten in die Wege der Zwei Fahrzeuge (Śrāvakayāna und Pratyekabuddhayāna).
Das Praktizieren der Freigebigkeit ist der Ort der Übung und des Lernens,
denn man erwartet keinen Lohn dafür.
Das Bewahren der Sittlichkeit (Śīla) ist der Ort der Übung und des Lernens,
denn man erfüllt alle gegebenen Versprechen.
Ein Geist, der nichts zu ertragen hat, ist der Ort der Übung und des Lernens,
denn man kann allen Lebewesen mit Gleichmut und ohne Zorn begegnen.‘“
Eifriges und unermüdliches Streben ist der Ort der Übung und des Lernens,
weil man dadurch beharrlich voranschreitet und keinen Rückschritt erleidet.
In die Versenkung durch Meditation einzutreten ist der Ort der Übung und des Lernens,
weil man dadurch den aufgewühlten Geist beruhigt und ihn fein und sanft werden lässt.
Das Erwecken der Weisheit ist der Ort der Übung und des Lernens,
weil man dadurch die wahre Wirklichkeit aller Erscheinungen richtig erkennt.
Weitreichende Güte und allumfassende Liebe sind der Ort der Übung und des Lernens,
weil man dadurch alle fühlenden Wesen gleichmäßig rettet und unterstützt.
Ein mitfühlendes Herz für die leidende Welt ist der Ort der Übung und des Lernens,
weil man dadurch in der Lage ist, Mühen und Schwierigkeiten standhaft zu ertragen.
Mitfreude und Lobpreisung sind der Ort der Übung und des Lernens,
weil man sich durch das Hören der Lehre erfreut und glücklich wird.
Das Aufgeben von Gier und Zorn ist der Ort der Übung und des Lernens,
weil man dadurch Hass und Anhänglichkeit vollkommen überwindet.
Das Erreichen übernatürlicher Kräfte und unmittelbarer Erkenntnis ist der Ort der Übung und des Lernens,
weil man dadurch die sechs übernatürlichen Fähigkeiten vollendet und unzählige fühlende Wesen rettet.
Die Befreiung von allen Fesseln ist der Ort der Übung und des Lernens,
weil man dadurch die Leiden der drei Daseinsbereiche ablegt.
Das umfassende Anwenden geschickter Mittel ist der Ort der Übung und des Lernens,
weil man dadurch die Belehrung und Errettung der Wesen erleichtert.
Das umfassende Praktizieren der vier Arten der Sammlung (Schenken, liebevolle Rede, hilfreiches Handeln und Gleichsein)
ist der Ort der Übung und des Lernens,
weil man dadurch die Weisheit der Wesen sammelt und führt.
Umfassendes Wissen und weites Hören sind der Ort der Übung und des Lernens,
weil man dadurch die Lehren, die man hört, wirklich in die Praxis umsetzt.
“
Die Zähmung der Gedanken ist der Ort der Übung und des Lernens,
weil dadurch eine präzise Unterscheidungskraft entsteht.
Das Verwirklichen der siebenunddreißig Faktoren zur Erleuchtung ist der Ort der Übung und des Lernens,
weil jegliche Anhaftung das Fortschreiten auf dem Weg verhindert.
Die klare Erkenntnis der Vier Edlen Wahrheiten ist der Ort der Übung und des Lernens,
weil man dadurch die wirkliche Beschaffenheit der Welt als leidvoll versteht.
Das Verständnis des Entstehens in Abhängigkeit ist der Ort der Übung und des Lernens,
weil Unwissenheit bis hin zum Alter und Tod sonst endlos fortbestehen würden.
Das Auflösen aller Arten von Verunreinigungen ist der Ort der Übung und des Lernens,
weil man dadurch deren wahres Wesen erkennt und ihre Fesseln überwindet.
Das umfassende Erretten aller fühlenden Wesen ist der Ort der Übung und des Lernens,
weil man dadurch die Erkenntnis des selbstlosen Handelns erlangt.
Das Erkennen aller Phänomene ist der Ort der Übung und des Lernens,
weil man dadurch versteht, dass alles aufgrund bedingter Entstehung leer und nur scheinbar existent ist.
Das Überwinden von Dämonenhindernissen ist der Ort der Übung und des Lernens,
weil man dadurch seinen Geist stählt und weder wankt noch zurückschreckt.
Das Nichtverlassen der drei Daseinsbereiche ist der Ort der Übung und des Lernens,
weil man keinerlei unterscheidende Ausrichtung oder Wahl mehr trifft.
Das Ertönenlassen des Löwengebrülls ist der Ort der Übung und des Lernens,
weil man dadurch frei und furchtlos die Lehre verkünden kann.
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Die wunderbare Entfaltung der Zehn Kräfte, der Vier Furchtlosigkeiten und der Achtzehn besonderen Eigenschaften eines Buddha ist der Ort der Übung und des Lernens,
weil Körper, Rede und Geist keinerlei Fehler oder Vergehen mehr aufweisen.
Das Erlangen der Drei Erkenntnisse ist der Ort der Übung und des Lernens,
weil keinerlei Überreste von Verunreinigungen mehr bestehen und keine Hindernisse mehr vorhanden sind.
In einem einzigen Gedanken alle Dharmas unmittelbar zu durchschauen, ist der Ort der Übung und des Lernens,
weil in diesem einen Gedanken die Allwissenheit vollständig verwirklicht wird.
So ist es, o edler Sohn:
Wenn ein Bodhisattva sich an die sechs Vollkommenheiten (Pāramitās) als Maßstab für sein Handeln hält und dadurch die fühlenden Wesen belehrt und verwandelt,
dann sollst du wissen, dass alle seine Handlungen, jede seiner Bewegungen und Gesten, aus dem Ort der Übung und des Lernens hervorgehen
und dass er bereits fest in der Lehre des Buddha weilt!
Weltverehrter, just in dem Moment, als Vimalakīrti diese Worte sprach,
faßten fünfhundert Himmelswesen den Entschluss, nach der höchsten vollkommenen Erleuchtung zu streben.
Deshalb kann ich die Aufgabe, ihn zu besuchen und nach seinem Befinden zu fragen, nicht übernehmen.“
“
Da sprach der Weltverehrte zu Bodhisattva Dharmaratha (Träger der Welt):
‚Geh bitte und erkundige dich nach dem Befinden von Vimalakīrti!‘
Dharmaratha erwiderte dem Buddha:
‚Weltverehrter, ich fürchte, ich bin nicht in der Lage, hinzugehen und nach seinem Befinden zu fragen.
Warum? Ich erinnere mich: Einst weilte ich zu Hause in stiller Übung,
als Māra, der Böse, sich als Śakra (König der Götter) verkleidete
und mit zwölftausend Himmelsmädchen, begleitet von Musik und Gesang, vor mir erschien.
Er verneigte sich, legte seinen Kopf auf meine Füße, faltete die Hände ehrerbietig und stellte sich mit seinem Gefolge zur Seite.
Ich hielt ihn tatsächlich für Śakra und sprach zu ihm:
„Sei willkommen, Kauśika! Auch wenn du über großes Verdienst verfügst und dich solcher Freuden erfreuen kannst,
solltest du dich nicht dem zügellosen Genuss hingeben.
Du solltest erkennen, dass die fünf Sinnesgenüsse – Formen, Klänge, Düfte, Geschmäcke und Berührungen – unbeständig sind.
Stattdessen solltest du fleißig Verdienst und gute Wurzeln ansammeln, denn das ist der wahre Schutz für dein Leben, deinen Körper und deinen Besitz.“
Da sprach Māra zu mir:
„Du gerechter Freund, mögest du diese zwölftausend Himmelsmädchen annehmen!
Sie sollen deinen Hof kehren und dir zu Diensten stehen!“
Ich entgegnete:
„Kauśika, zwing mir nichts Unangemessenes auf!
Ich bin ein Schüler im Hause des Śākyamuni und solches geziemt sich für mich nicht!“
Noch während ich diese Worte sprach,
kam Vimalakīrti herbei und sagte zu mir:
„Das ist nicht Śakra!
Diese Himmelsmädchen sind vom Māra gesandt worden, um dein Herz zu verwirren.“
Sogleich wandte er sich an Māra und sprach:
„Überlasse diese Mädchen mir –
jemand wie ich kann sie sehr wohl annehmen.“
Māra geriet daraufhin in große Bestürzung und Furcht
und dachte:
„Möge Vimalakīrti mich nicht in Bedrängnis bringen!“
Er wollte sich augenblicklich unsichtbar machen und entfliehen,
doch er konnte sich nicht verbergen –
selbst durch Anwendung all seiner Zauberkünste gelang es ihm nicht, zu entkommen.
“
In diesem Moment ertönte eine Stimme aus dem Raum:
„Māra, überlasse die Himmelsmädchen Vimalakīrti – nur dann wirst du entkommen können!“
Aus Angst sah sich Māra gezwungen, die Himmelsmädchen an Vimalakīrti zu übergeben.
Da sprach Vimalakīrti zu den Himmelsmädchen:
„Da Māra euch mir überlassen hat, solltet ihr von jetzt an den Entschluss fassen, die höchste vollkommene Erleuchtung (Anuttarā Samyaksaṃbodhi) zu erstreben!“
Daraufhin erklärte er ihnen gemäß ihren jeweiligen Fähigkeiten und Neigungen das Dharma
und entfachte in ihnen den Wunsch, den Buddhaweg zu beschreiten.
Er sprach weiter:
„Da ihr nun den Entschluss zur Erlangung der Buddha-Erkenntnis gefasst habt,
solltet ihr künftig eure Freude aus der Wonne des Dharma schöpfen
und nicht mehr aus den Genüssen der Begierde.“
Die Himmelsmädchen fragten:
„Was ist die Freude an der Wonne des Dharma?“
Vimalakīrti antwortete:
„Wer den Wunsch nach dem Buddhaweg hegt,
sollte sich freuen:
am ständigen Vertrauen in das Dharma,
am Darbringen von Gaben an die Gemeinschaft,
am Abstand von den fünf Begierden – Formen, Klänge, Düfte, Geschmäcke und Berührungen –,
am Erkennen der fünf Skandhas als feindliche Räuber,
am Betrachten der vier Elemente als giftige Schlangen,
am Erkennen der sechs Sinnesorgane als leere Städte,
am stetigen Bewahren des Geistes, der den Buddhaweg anstrebt,
am Helfen aller fühlenden Wesen,
am Respekt und der Verehrung von guten Freunden (spirituellen Lehrern),
am großzügigen Praktizieren von Freigebigkeit,
am standhaften Einhalten der Gebote,
am geduldigen Ertragen von Widrigkeiten,
am eifrigen Ansammeln von Verdiensten,
an der Versenkung in tiefer Meditation,
an der Läuterung der eigenen schlechten Gewohnheiten,
an der Erweckung des Bodhicitta (des Geistes des Erwachens) bei allen,
an der Überwindung aller Arten von Māras (dämonischen Hindernissen),
an der Auflösung aller Leidenschaften,
an der Reinigung der Buddha-Länder,
an der Verwirklichung der zweiunddreißig besonderen Körpermerkmale und der achtzig edlen Eigenschaften.“
Freude an der Ausübung aller Verdienste, die zum Erlernen des Buddhaweges führen;
Freude an der Ausschmückung und Gestaltung von Versammlungsstätten zur Dharma-Praxis;
Freude am angstfreien Hören tiefgründiger Dharma-Lehren;
Freude an der Praxis der drei Tore der Befreiung – Leerheit, Zeichenlosigkeit und Wunschlosigkeit;
Freude daran, selbst unter ungünstigen Umständen Befreiung zu erlangen;
Freude am Umgang mit Weggefährten auf dem Buddhaweg;
Freude daran, auch mit Nichtpraktizierenden ohne Groll und Vorurteil zusammenzuleben;
Freude daran, schlechten Lehrern Leitung und Schutz zu bieten;
Freude an der Nähe zu guten spirituellen Freunden;
Freude an der inneren Liebe zur Reinheit;
Freude an der intensiven Praxis der zahlreichen Dharmas, die das Erwachen fördern –
dies alles ist die Wonne, die ein Bodhisattva in der Freude am Dharma erfährt!“
Da sprach Māra zu den Himmelsmädchen:
„Kommt, kehrt mit mir in meinen Palast zurück!“
Doch die Himmelsmädchen erwiderten:
„Du hast uns dem ehrwürdigen Vimalakīrti übergeben.
Wir haben nun die Freude an der Dharma-Wonne kennengelernt und empfinden große Glückseligkeit;
wir wollen uns nicht mehr nach den Freuden der Begierde sehnen.“
Da sprach Māra:
„Ehrwürdiger Herr, könntest du mir die Himmelsmädchen zurückgeben?
Man sagt doch, wer alles, was er besitzt, großzügig an andere verschenkt,
verdiene wahrhaft den Namen Bodhisattva!“
Vimalakīrti antwortete:
„Gut, ich gebe sie dir zurück.
Nimm sie mit,
und mögest du es ermöglichen, dass alle Lebewesen den Wunsch entwickeln, den Dharma zu erlernen!“
Da fragten die Himmelsmädchen Vimalakīrti:
„Wenn wir wieder im Palast des Māra leben,
wie sollen wir dann unser Leben gestalten?“
Vimalakīrti sprach:
„Schwestern,
es gibt ein Dharma-Tor namens ‚Unendliches Licht‘ (oder ‚Unerschöpfliche Lampe‘),
das ihr erlernen solltet.“
Was bedeutet das sogenannte ‚unerschöpfliche Licht‘ (‚unendliche Lampe‘)?
Es ist wie eine einzige Lampe, die hunderttausende weitere Lampen entzünden kann,
wodurch die Dunkelheit erhellt und das Licht ohne Ende weitergegeben wird,
ohne jemals zu erlöschen.
Ebenso, Schwestern,
ist es wie bei einem Bodhisattva,
der hunderttausende Lebewesen dazu anleitet,
den Entschluss zur höchsten vollkommenen Erleuchtung zu fassen.
Dadurch wird das Streben nach dem Buddhaweg weder geschwächt noch aufgegeben,
sondern im Gegenteil:
Mit fortgesetztem Lehren und Erklären wachsen alle guten Dharmas stetig weiter an.
Dieses Prinzip nennt man ‚unerschöpfliches Licht‘.
Obwohl ihr in den Palast des Māra zurückkehrt,
könnt ihr doch durch die Kraft dieses ‚unerschöpflichen Lichts‘
unzählige Göttersöhne und Göttertöchter dazu bringen,
den Entschluss zur höchsten vollkommenen Erleuchtung zu fassen.
Auf diese Weise könnt ihr dem Buddha euren Dank erweisen
und zahlreichen Wesen von großem Nutzen sein.“
Da verneigten sich die Himmelsmädchen,
indem sie Vimalakīrtis Füße mit ihren Köpfen berührten,
und folgten dann Māra zurück in seinen Palast.
Plötzlich verschwanden sie alle spurlos.
„Weltverehrter,
weil Vimalakīrti eine so große, freie Kraft der Wundergaben
und eine unvergleichliche, unbegrenzte Weisheit der Rede besitzt,
kann ich es nicht übernehmen, zu ihm zu gehen und nach seinem Befinden zu fragen.“
Da sprach der Buddha zu dem reichen jungen Mann, der ‚Gutes erlangt‘ hieß:
„Geh und erkundige dich nach dem Zustand von Vimalakīrti!“
Der junge Mann antwortete dem Buddha:
„Weltverehrter, ich fürchte, ich kann nicht zu ihm gehen und nach seinem Zustand fragen.
Warum?
Ich erinnere mich an ein Ereignis aus der Vergangenheit:
Eines Tages veranstaltete ich zu Hause meines Vaters ein großes Opferfest,
um allen Mönchen, Laienpraktizierenden, Brahmanen, Außenseitern,
Armen, Unwürdigen, Witwen, Waisen und Bettlern zu opfern.
Als die Festtage nach sieben Tagen zu Ende gingen,
kam Vimalakīrti zur Versammlung und sagte zu mir:
‚Reicher Junge, wahre Wohltätigkeit ist nicht das, was du hier veranstaltest.
Du solltest eine Versammlung abhalten, bei der du das Dharma spendest.
Was nützt es, eine Versammlung abzuhalten, bei der du materielle Dinge spendest?‘
Ich fragte ihn: ‚Hausmann, was ist wahre Wohltätigkeit?‘
Er antwortete: ‚Wahre Wohltätigkeit bedeutet, unaufhörlich und von Anfang bis Ende
allen Lebewesen zu geben. Es reicht nicht, nur materiellen Reichtum zu spenden;
du solltest das Dharma geben!‘
Ich fragte: ‚Wie kann man das Dharma spenden?‘
Er antwortete: ‚Die wahre Wohltätigkeit des Dharma kommt aus dem Wunsch,
anderen Freude zu bereiten, aus der erhabenen Bodhichitta,
die darauf abzielt, alle Wesen zur Erleuchtung zu führen;
wahre Wohltätigkeit entsteht aus dem tiefen Mitgefühl,
das sich wünscht, das Leiden der anderen zu beenden,
weshalb man alle Wesen retten möchte;
wahre Wohltätigkeit ist, aus dem Wunsch heraus,
dass andere stets frei von Sorgen und voller Freude sind,
indem man ihnen richtige Vorstellungen vermittelt;
wahre Wohltätigkeit ist das Handeln im Geist der ungeteilten Großzügigkeit,
indem man Weisheit in die Praxis des Gebens umsetzt;
wahre Wohltätigkeit geht vom Wunsch aus, das Bodhisattva-Praxis des Gebens zu vollziehen,
um von Habsucht und Gier zu befreien.“
Die Dharma-Spende entspringt der Praxis der Durchführung der sechs Pāramitās.
Die Dharma-Spende entsteht durch das Praktizieren der Sila-Pāramitā, die den Schutz der Sittlichkeit lehrt und vor dem Brechen der Gebote warnt.
Die Dharma-Spende entsteht durch das Praktizieren der Kṣānti-Pāramitā, die die Wahrheit der Nicht-Unterscheidung des „Ich“ offenbart.
Die Dharma-Spende entsteht durch das Praktizieren der Vīrya-Pāramitā, die uns von der Faulheit im Körper und Geist befreit.
Die Dharma-Spende entsteht durch das Praktizieren der Dhyāna-Pāramitā, die zur Erleuchtung des Bodhisattvas führt.
Die Dharma-Spende entsteht durch das Praktizieren der Prajñā-Pāramitā, die alle Weisheit verwirklicht.
Die Dharma-Spende ist die Erziehung aller Wesen, weil sie sich aus dem Verständnis der Wahrheit des „Leerens“ ergibt.
Die Dharma-Spende wird durch das Handeln in der Welt, basierend auf der Einsicht in das „Nicht-Bild“ des Seins, manifestiert.
Die Dharma-Spende zeigt das Phänomen der „Wiedergeburt“, basierend auf der Leerheit des Handelns.
Die Dharma-Spende dient dem Schutz des rechten Dharma, weil sie durch die Kraft der Weisheit und der Mittel erlangt wird.
Die Dharma-Spende ist das Retten von Wesen, da sie in den vier Mitteln der Sammlung – Geben, freundliche Worte, nützliche Taten und gemeinsames Handeln – erscheint.
Die Dharma-Spende wird durch die Haltung des Respekts gegenüber allen Dingen verwirklicht, da sie den Gedanken der Arroganz überwindet.
Die Dharma-Spende ist der richtige Umgang mit Körper, Leben und Besitz, weil sie aus der Festigung des Dharma-Körpers, des Weisheitslebens und des Vermögens an Tugenden resultiert.
Die Dharma-Spende findet sich im Gedanken an den Buddha, das Dharma, den Sangha, das Geben, die Gebote und den Himmel, da sie aus der richtigen Achtsamkeit und Entsagung entspringt.
Die Dharma-Spende ist das harmonische Zusammenleben in Körper, Sprache und Geist, in der Absicht, dass alle in der Praxis des Weges vereint sind.
Die Dharma-Spende ist das Handeln in Übereinstimmung mit den guten Taten, basierend auf der Reinheit der Vorbestimmung.
Die Dharma-Spende ist die Freude des klaren Herzens, weil sie den Wunsch zeigt, sich in der Nähe weiser und heiliger Lehrer zu befinden.
Die Dharma-Spende ist frei von Hass gegenüber anderen, da sie das Erlernen der Beherrschung des Zorns umfasst.“
Die Dharma-Spende ist das Praktizieren des Ordenslebens, weil sie aus einem tiefen Wunsch nach dem Pfad des Erwachens entspringt.
Die Dharma-Spende ist das Handeln gemäß den Lehren des Buddha, weil sie aus umfangreichem Wissen und Hören resultiert.
Die Dharma-Spende ist eine Praxis, die im Einklang mit der Welt steht, weil sie aus einem Leben in Ruhe und Gelassenheit kommt.
Die Dharma-Spende ist die Weisheit, die den Wunsch, Buddhaschaft zu erlangen, antreibt, weil sie aus der Selbstreflexion in der Meditationspraxis hervorgeht.
Die Dharma-Spende ist das Befreien der Wesen von ihren Fesseln, weil sie aus der Erfahrung des praktischen Trainings kommt.
Die Dharma-Spende ist das Erwerben von gutem Aussehen und die Fähigkeit, das Buddha-Land zu reinigen, weil sie aus dem karmischen Ergebnis guter Taten resultiert.
Die Dharma-Spende ist das Wissen über die Gedanken aller Wesen, um entsprechend zu lehren, weil sie aus dem karmischen Ergebnis von Weisheit stammt.
Die Dharma-Spende ist das Verstehen aller Dinge, ohne Trennung oder Unterscheidung, und das Einhalten der Lehre der Gleichwertigkeit, weil sie aus dem Ergebnis von Weisheit und Klugheit entsteht.
Die Dharma-Spende ist das Abschneiden aller Leiden, Hindernisse und schlechten Handlungen, weil sie aus dem Ergebnis von Tugend und guter Praxis resultiert.
Die Dharma-Spende ist das Ziel, alles Wissen und alle guten Lehren zu erlangen, weil sie aus dem Ergebnis der Unterstützung des Buddha-Weges stammt.
Guter Mann, wenn jemand solch eine Dharma-Spende praktiziert, dann ist er ein großer Spender und das Feld der größten Tugend für alle in der Welt.“
Zur Zeit, als Vimalakirti diese Worte sprach, entsprachen zweihundert Brahmanen dem Ruf und nahmen sich vor, das höchste, rechte Erwachen zu erlangen.
Und ich erreichte sofort einen Zustand reiner Geisteshaltung und war erstaunt, solch eine Erfahrung noch nie zuvor gemacht zu haben. Dann verbeugte ich mich vor Vimalakirti und bot ihm die Kette an, die ich um meinen Hals trug, ein Schmuckstück von mehr als tausend Goldstücken wert. Doch er wollte es nicht annehmen. Ich sagte: ‚Möge der ehrwürdige Herr es bitte annehmen und dann nach Belieben an andere weitergeben.‘ Daraufhin nahm Vimalakirti das Schmuckstück an, teilte es in zwei Hälften und gab eine Hälfte dem ärmsten und niedrigsten der versammelten Spender, die andere spendete er als Opfergabe an den unübertrefflichen Tathagata. Alle Anwesenden im Versammlungssaal sahen mit eigenen Augen, wie der unübertreffliche Tathagata das Land des Lichts beherrschte, und sie sahen ebenfalls, wie das Schmuckstück in dem Licht-Buddha-Land sich in einen viersäuligen Edelstein-Thron verwandelte, dessen Struktur wunderschön verziert und ungehindert war. Nachdem dieses wunderbare Phänomen sichtbar wurde, sprach Vimalakirti: ‚Wenn der Spender in Gleichmut einem der niedrigsten Bettler spendet, dann ist die Verdienste gleich wie das Spenden an den Tathagata, beide sind ununterscheidbar, beide entspringen aus dem gleichen großen Mitgefühl und sind nicht auf Fruchterlangung ausgerichtet – das ist die wahre Praxis der Dharma-Spende!‘ Und der ärmste Bettler aus der Stadt Piyaya, der dies mit eigenen Augen gesehen und den Vortrag gehört hatte, setzte sein Herz auf das höchste, vollständige Erwachen. Deshalb bin ich nicht in der Lage, die Aufgabe zu übernehmen, ihn nach seinem Gesundheitszustand zu fragen.‘“
Ebenso erzählten alle Bodhisattvas ihre Geschichten und Verbindungen zu Vimalakirti und sagten: ‚Wir sind nicht in der Lage, die Aufgabe zu übernehmen, ihn nach seinem Gesundheitszustand zu fragen.‘